Burg Wilhelmstein, 18. Oktober 1496
Herzog Wilhelm von Jülich und Berg hatte sich aus seinem Stuhl erhoben und mit den Fäusten auf dem Tisch aufgestützt, damit er den vor dem Tisch am Fuß der Empore knienden Ritter besser sehen konnte. Sein Gesicht war gerötet und die blassblauen Augen unter den buschigen grauen Augenbrauen zu schmalen Linien zusammengekniffen.
»Du Vollidiot! Hirnverbranntes Rindviech!«, brüllte er. Der Mann vor dem Tisch sackte noch weiter in sich zusammen. »Wann lernst du endlich, dass das Ding zwischen deinen Beinen nicht zum Denken da ist?« Der Herzog erwartete glücklicherweise keine Antwort. »Duelliert sich mit dem Bruder einer Bauerntochter! Wirst du eigentlich irgendwann mal erwachsen? Jahrelang habe ich dich wie einen Sohn behandelt. Bei den Friedensverhandlungen mit Geldern können wir uns keinen Fehler erlauben - und dann kommt so etwas! Ich muss mich doch wenigstens auf meine Leute verlassen können.« Das Gesicht des Herzogs nahm einen leicht bläulichen Farbton an. Am anderen Ende des Saals verschwanden zwei Arbeiter, die einen Riss in der Wand ausbesserten, unauffällig durch eine Seitentür.
»Was ist, wenn König Maximilian davon erfährt? Wir haben so schon genug Probleme!«
»Wir haben uns nicht duelliert. Es war nur eine dumme Prügelei«, murmelte der Mann vor der Empore mit Blick zum Boden. Er verzichtete darauf, dem Herzog zu erklären, dass es sich nicht um eine Bauerntochter, sondern um die Tochter eines kleinen Landadeligen gehandelt hatte - eines geldrischen Landadeligen allerdings.
»Das ist doch völlig egal!«, brüllte Wilhelm. »Du hast den Kerl zum Krüppel geschlagen!« Wilhelm atmete tief durch. »Es geht überhaupt nicht darum, wie es wirklich war, sondern was weitererzählt wird«, setzte er etwas ruhiger hinzu.
»... und was der König glauben wird!«, ergänzte seine Frau leise. Sybilla von Brandenburg legte ihrem Mann ihre schmale Hand auf die Schulter.
»Großer Gott, ich sollte mich nicht so aufregen«, sagte Wilhelm und sank zurück auf seinen Stuhl. Er griff nach seinem Bierkrug und nahm einen tiefen Schluck.
»Es tut mir leid!«, sagte der Ritter. Er sah weiterhin zu Boden.
»Verdammt Arnold, komm gefälligst hier hoch, damit ich besser sehen kann, wie leid es dir tut. Und sag' bloß das Richtige, sonst kannst du meinen frisch ausgebesserten Kerker in der Torburg gleich mal ein paar Jahre lang ausprobieren.« Arnold wusste, dass Wilhelm erst richtig gefährlich wurde, wenn er begann, leise zu reden und stieg die drei Stufen zur herrschaftlichen Tafel empor. Er verkniff sich allerdings jede verräterische Mundbewegung, denn er hatte keine Lust, auch nur eine einzige Nacht bei den Ratten im Kerker zu verbringen.
»Sieh mir in die Augen, wenn ich mit dir rede!«
»Ja, Herr«, sagt Arnold kleinlaut. Er war stolz darauf, genau den richtigen Tonfall getroffen zu haben.
»Der ewige Landfriede ist gerade mal ein Jahr alt und Maximilian muss beweisen, dass er es damit wirklich ernst meint. Er könnte auf die Idee kommen, an dir ein Exempel zu statuieren. Und wenn du mir bei den Friedensverhandlungen helfen sollst, dann musst du über jeden Zweifel erhaben sein«, erklärte Wilhelm nun schon etwas ruhiger. »Du musst für eine Weile aus der Schusslinie verschwinden. Ich werde dafür sorgen, dass die Familie eine entsprechende Entschädigung erhält und alle den Mund halten. Vielleicht machst du eine nette kleine Reise an einen befreundeten Fürstenhof?«
»Oder eine Pilgerreise!«, warf seine Frau leise ein. »Dann kann er ein wenig Demut lernen. Obwohl ich da keine große Hoffnung für dich habe.« Sie lächelte Arnold kurz an, wurde aber gleich wieder ernst. Arnold gab sich größte Mühe, nicht verräterisch zu grinsen. »Eine Pilgerreise?«, murmelte er. »Da bin ich doch Ewigkeiten unterwegs!«
»Genau - was meinst du, Wilhelm, ein gutes Jahr dauert es doch nach Jerusalem und zurück, oder?«, fragte Sybilla ihren Mann mit Unschuldsmiene. »Und durch die Pilgerreise zu den heiligsten Stätten der Christenheit erhältst du ganz nebenbei auch noch die Generalabsolution und kannst noch einmal ganz von vorne anfangen«, sagte sie zu Arnold gewandt.
»Das ist eine großartige Idee, Liebste. Obwohl ich jetzt eigentlich auf keinen Mann verzichten kann, wo die Friedensverhandlungen mit Geldern mal wieder nicht von der Stelle kommen«, brummte Wilhelm. »Wenn sich nichts tut, werden wir wohl wieder gegen Geldern mobilmachen müssen. Gütiger Herr, was das wieder kosten wird!« Arnold war erleichtert, gab sich aber weiterhin angemessen zerknirscht.
»Wir reisen ja morgen sowieso wieder ab, da kannst du mit uns nach Heinsberg kommen. Und von dort aus wirst du dann ohne Farben und Wappen und in der Dunkelheit weiter nach Caster reiten und dann nach Köln. Alle sollen glauben, dass du dich auf Burg Heinsberg versteckst. Falls Maximilian dich suchen lässt, werden seine Leute zuerst dort auftauchen. Für alle Fälle werde ich dir einen Geleitschutz mitgeben.«
Am nächsten Morgen verließ eine kleine Reisegruppe Burg Wilhelmstein. Nach einer Vorhut aus drei Rittern mit Kettenhemden und Schwertern ritten Sybilla und Herzog Wilhelm, dicht gefolgt von Arnold und drei weiteren Rittern über die Zugbrücke aus dem Burghof. Danach kamen einige Diener, die zusätzlich Packpferde führten. Die schwereren Gepäckstücke waren schon im ersten Morgengrauen mit einem Ochsenkarren losgeschickt worden. Arnold blickte zurück zu dem mächtigen Bergfried, der sich zwischen Vorburg und Hauptburg erhob. Schon als kleiner Junge hatte er sich gefragt, wie man die riesigen Steinblöcke für den Turm bewegt hatte. Seine Amme hatte ihm erzählt, dass Riesen dem ersten Wilhelm beim Bau der Burg geholfen hätten. Seither hatte er immer die Gesichter der Riesen in den Steinen der Burgmauer gesehen. Arnold trug über seinem Kettenhemd einen Wappenrock in den Familienfarben derer von Harff, Rot, Silber und Blau. Auf der Brust war das Wappen aufgestickt, ein Schild, der in der oberen Hälfte einen blauen Turnierkragen auf rotem Grund zeigte und dessen untere Hälfte mit kostbaren Silberfäden gearbeitet war. Sybilla und ihr Mann trugen lange Reiseumhänge mit Pelzbesatz an Ärmeln und Kapuze. Nachdem sie das Tor der Vorburg und die Zugbrücke passiert hatten, wandte sich die kleine Gruppe nach links und ritt durch einen steilen Hohlweg, über dem Buchenzweige ein goldenes Dach bildeten, hinunter ins Tal. Auf dem goldenen Herbstlaub am Boden glitzerten Eiskristalle in der blassen Morgensonne.
»Der Herbst und der Winter machen mir zunehmend zu schaffen.« Wilhelm hatte sich leicht zu Arnold herumgedreht. »Ich bin jetzt 41 und hoffe, dass der Allmächtige mir noch die Zeit gibt, meine kleine Maria zu verheiraten.« Arnold erinnerte sich an sein Erstaunen, als er erfahren hatte, dass Maria schon mit fünf Jahren mit Johann von Cleve verlobt worden war. Jetzt wurde ihm klar, dass Wilhelm Sorge hatte, die Hochzeit nicht mehr zu erleben, denn darauf musste er noch mindestens zehn Jahre warten. Aber es passte zu Wilhelm, jetzt schon alles in die Wege zu leiten. Im Juli 1481 hatte Wilhelm die damals fünfzehnjährige Sybilla geheiratet, die ihn vom ersten Augenblick an durch ihr einnehmendes Wesen und ihre natürliche Anmut bezaubert hatte. Er selbst war da schon sechsundzwanzig Jahre alt. Erst zehn Jahre später wurde ihre einzige Tochter geboren. Daran hatte damals schon lange niemand mehr geglaubt. Natürlich setzte Wilhelm seine ganzen Hoffnungen in die kleine Maria. Arnold lächelte in sich hinein.
»Ich bin froh, wenn wir in Heinsberg sind. Es ist hier doch recht unkomfortabel und mit den restlichen Bauarbeiten wird der Vogt jetzt wohl alleine zurechtkommen.« Im Tal angekommen bog die Reitergruppe nach rechts ab und folgte dem Weg am Fuß des Hangs. Das Flüsschen Wurm floss in einiger Entfernung durch sumpfige Wiesen, über denen noch der Morgennebel hing. Mit der Zeit vergrößerten sich die Abstände zwischen den Reitern und Sybilla ließ sich leicht zurückfallen, bis sie auf der Höhe von Arnold ritt.
»Woher wusstet Ihr von der Pilgerreise?«, fragte Arnold.
»Nun ich habe im letzten Jahr deine Mutter besucht. In Köln, kurz vor ihrem Tod. Da hat sie mir davon erzählt.« Arnold kniff die Lippen zusammen. Nach einer Weile sagte er leise »Danke!«
»Weißt du«, fuhr Sybilla im Plauderton fort, um die traurige Stimmung zu vertreiben, »eine Pilgerreise ist die ideale Tarnung. Du wirst aussehen wie jeder andere Pilger und alle paar Tage deinen Aufenthaltsort ändern. Und wenn du dich nicht an die üblichen Routen hältst, dann kann niemand vorhersehen, wo du morgen sein wirst. Selbstverständlich wirst du uns genauestens unterrichten, wenn du wieder da bist. Und pass bloß auf, dass dir nichts passiert!«
»Ja Herrin!« Arnold deutete eine Verbeugung an. »Selbstverständlich werde ich Euch auch etwas Schönes mitbringen.«
»Du bist ein guter Junge«, sagte Sybilla mit einem schalkhaften Lächeln und einem Zwinkern in ihren braunen Augen. Und dann, wieder viel ernster: »Arnold, versprich mir, keine Dummheiten zu machen. So eine Reise ist ziemlich gefährlich. Ich mache mir solche Sorgen, obwohl du noch gar nicht unterwegs bist.« Und dein Hitzkopf bringt dich sowieso dauernd in Schwierigkeiten, dachte sie, sprach es aber nicht aus.
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